Wertschätzung, Devotion und menschliche Freiheit - Ein Widerspruch?

Ist Hingabe und Verehrung immer gleichzusetzen mit Selbstaufgabe oder Persönlichtkeitsverlust oder kann eine richtig verstandene Devotion nicht vielmehr sogar Ausdruck und Werkzeug der Reife und Selbsterkraftung werden?
„Nicht das macht frei, daß wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben daß wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, daß wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein.“

J.W. von Goethe


In unserer westlichen Kultur sind wir zumeist stolz auf unseren Standpunkt, den wir gerne ausdrucksvoll und mit klarer Meinung nach außen vertreten. Die Freiheit seine Meinung zu äußern, das Recht auf Selbstbestimmung und seine Position zu vertreten sind zentrale Grundwerte unserer Gesellschaft - keine Frage. Dennoch läßt sich deutlich sagen, dass wir in einer sehr anthropozentrischen Gesellschaft leben - zumindest was unsere westliche Kultur betrifft. Wir verbinden Freiheit mit unserem persönlichen Ich-Gefühl und damit uns in jedem Augenblick selbst nach subjektiven Befinden definieren zu können. Unser westliches Werteverständnis ist sehr stark auf Sicherung und Erhaltung unserer persönlichen Freiheit ausgerichtet und es lebt eine ungesehene Angst davor diese persönliche Freiheit angetastet zu sehen oder gar einschränken zu müssen. Vielfach aber binden wir unser Selbstgefühl an materielle Bedingungen, wie Besitz, beruflichen oder gesellschaftlichen Status usw… Erich Fromm sprach diesbezüglich von der Haben-Gesellschaft die sich eben nicht mehr als eine Seins-Gesellschaft erlebt. Dieses Haben schenkt uns eine gewisse Freiheit und es soll diese hier auch keineswegs verdammt werden. Dennoch ist mit dieser Haben-Kultur ein tiefer Grundton der Angst verbunden. Es ist die Angst vor Verlust, genauer gesagt ist es aber eine tiefe Angst vor dem Sein. Dieses Sein folgt nun aber anderen, man könnte sagen seelischen Gesetzmäßigkeiten, während dem Haben-Prinzip mehr ein ungesehenes Abhängigkeitsverhältnis an die materiellen Bedingungen zugrunde liegt.


Der Materialismus als Ausdruck der Angst vor dem Geistigen

Unsere westliche Kultur atmet tatsächlich in einem latenten und doch deutlichen Grundton der Angst. Man könnte diese Angst auch fachlich als eine schizoide Angst charakterisieren. Es ist die Angst vor Nähe, vor wirklicher Beziehung und tieferer Verbindung, ja letztendlich die Angst vor Hingabe und einer Dimension die wir nicht nach gewohntem Verständnis kontrollieren und vielleicht gegenwärtig so nicht ertragen könnten. Es ist diese Angst eine unmittelbare Folge des Materialismus, der so sehr unsere heutige Kultur durchtränkt und in letzter Konsequenz die Angst vor dem Geistigen darstellt. Es ist traurig zu sehen, wie leider auch in vielen religiösen Formen dieser Materialismus heute grassiert. Wir wenden uns der Spiritualität oder der Religion hin, solange wir in unseren Gefühlen der Sehnsucht nach Harmonie, nach Unversehrtheit oder auch esoterisch gesprochen, solange wir unser persönliches Einheitsgefühl befriedigt sehen. In Yogakursen oder auch Seminaren und Vorträgen sind die Menschen dann zufrieden, wenn sie rasche, praktikable Rezepte erhalten, die sich möglichst unkompliziert in das bisherige eigene System integrieren lassen. Wenig aber zeigt sich heute noch die seelische Kapazität sich wirklich mit bspw. einer Yogaübung oder allgemein einem Inhalt auseinander zu setzen, sich zu diesem aktiv in Beziehung zu bringen. Wir haben dies regelrecht verlernt und es verbleibt die unbewusst aber determinierende Kraft der Sicherung des Bisherigen und Vertrautem.

Spirituelle Entwicklung ist aber ohne Hingabe und Hinwendung undenkbar. Rudolf Steiner beginnt sogar seine Schrift „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ einführend mit dem Gedanken:

„Eine gewisse Grundstimmung muß den Anfang bilden. Der Geheimforscher nennt diese Grundstimmung den Pfad der Verehrung, der Devotion gegenüber Wahrheit und Erkenntnis….Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, dass es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinaufzuentwickeln.“

Ist aber Verehrung und Hingabe, wie es gerne reflektiert wird ein Ausdruck menschlicher Schwäche und eines vielleicht fehlenden eigenen Standpunktes? Mit Nichten. Gegenteilig läßt sogar sich sagen, dass eine wirklich ausgeprägte Hinwendung und Hingabe als eine deutlich seelische Größe und Stärke gesehen werden kann. Sicher mag es sehr unterschiedliche Formen der Devotion geben. Die Hingabe in völliger Aufgabe der eigenen Position oder in vielleicht erwartender Haltung dem anderen oder einem Größeren gegenüber sei hier keinesfalls gemeint. Worin liegt aber die seelische Stärke einer wirklichen Devotion und verehrenden Kraft der Seele? Gerade eben darin, dass der Mensch einmal wirklich nicht bei sich selbst ansetzt und dies fällt uns heutzutage wie gesagt verdammt schwer. Dieses nicht-bei-sich-selbst-ansetzen erfordert aber eine gewisse grenzüberschreitende Überwindung und ein gesundes von-sich-selbst-Weggehen. Lebt im Menschen die Kraft einer gesunden Devotion, so kann er sich selber leichter in Ruhe lassen und über sich selbst hinauswachsen, den Blick auf Größeres richten.

Dem Vorwurf Devotion oder Hingabe führe zu einem Verlust des eigenen Standpunktes und einer Schwächung der Individualität muss entgegengehalten werden, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Die rechte Hingabe ist in jedem Sinne persönlichkeitsbildend und fördert geradewegs den eigenen und freien Standpunkt. Wie aber kann diese ehrerhaltende oder sogar ehrfördernde Hingabe auf dem spirituellen Schulungsweg konkret aussehen?


Konkrete Schritte im Umgang mit spirituellen Inhalten

Die Qualität einer keineswegs kritiklosen aber unvoreingenommen und offenen Bewusstseinshaltung gegenüber spirituellen Quellen oder Inhalten sollte als Voraussetzung dafür dienen, das Gegenüber, sei es eine Schrift oder eine Person überhaupt - so seltsam es klingen mag - wahrzunehmen. Heinz Grill bringt den Gedanken der Hingabe sogar in einen tiefen Zusammenhang mit dem Prinzip der Individuation und bemüht sich diese richtig verstandene Seelenkraft in der Auseinandersetzung mit einem spirituellen Werk zu verstehen und zu schulen. Widmet sich der Aspirant Texten und Inhalten authentischer spiritueller Quellen, so bedarf einer gewissen Schulung sich mit diesen auseinanderzusetzen. Nicht passiv sollen die Inhalte gelesen und in die eigene Innenwelt übernommen werden. Das Lesen spiritueller Inhalte sollte sehr sorgfältig und gegliedert geschehen. Zunächst wird bspw. eine Passage gelesen. Nun wird eine möglichst konkrete und bildhafte Vorstellung über das gelesene erzeugt ohne das Gelesene vorschnell zu interpretieren oder zu werten. Es ist dies der erste Schritt einer aktiven Anschauungsbildung. Der Inhalt bleibt sozusagen im Außen und wird nicht vorschnell mit dem eigenen bisherigen Wissen oder Ansichten vermischt. Man bewahrt ein betrachtendes Gegenüber zu den Inhalten. Dies ist ein seelisch sehr aktiver Denkprozess. Der gelesene Inhalt muss sozusagen nochmal eigenständig denkend erschaffen werden ohne diesen zu verändern.

Wer sich in dieser Disziplin übt bemerkt sehr schnell, dass er keineswegs rezeptiv nur einen Gedanken wiederkäut. Er erlebt dies vielmehr als einen aktiven schaffenden Denkprozess der sehr gegenwärtig durch den Menschen erzeugt und aufrechterhalten werden muss. Weiterhin könnte sich nun der Aspirant die Frage stellen, wenn er eine Passage gelesen hat, was nun der Kerngedanke zusammenfassend sein könnte - dies möglichst ohne die Passage zu interpretieren. Man bleibt in der betrachtenden Anschauung. Es kann auch das Gelesene einmal durch klare Gesten oder Bewegungen der Hände versucht werden diese qualitativ zu beschreiben oder zum Ausdruck zu bringen. Oder man liest in diesem Sinne morgens eine Passage - bleibt in denkender Betrachtung gegenüber dieser und mittags nun übt man sich darin, die Inhalte und Gedanken nochmals möglichst originalgetreu wiederzugeben. Abends kann dies vor dem Schlafengehen mit einer bildhaften Rückerinnerung an das Gelesene nochmals erfolgen. Man wird immer feststellen, dass diese Art der Auseinandersetzung niemals ein passives Übernehmen fremder Gedanken darstellt, sondern vielmehr wird man diese seelische Tätigkeit als außerordentlich stärkend und befruchtend erleben.

Spirituelle Inhalte tragen in sich - wenn sie aus einer reinen Quelle stammen - einen geistigen Funken oder eine Wahrheit, die sich mit dem herkömmlichen Intellekt nicht ausreichend verstehen läßt. So wie bspw. die Evangelientexte nicht nur Erzählungen, sondern tiefe geistige Inspirationen sind, so sprechen diese Inhalte in denkender und wacher Auseinandersetzung sozusagen unmittelbar zur Seele und sie ernähren wie von innen heraus durch ihren inneliegenden Wahrheitsgehalt. Wie eine feinste Wärme mit einer den Menschen zentrierenden und verinnerlichenden Substanz wirken solch inspirative Inhalte auf die Seele des Menschen zurück und ernähren sie sozusagen von innen nach außen. Der Mensch erlebt dies als ein Vorgang des inneren Wachsens, der Erweiterung und des lebendigen Lernens. Wohl dürfen die Inhalte nicht dazu dienen diese argumentativ gegenüber anderen postulierend einzusetzen. Somit würde sich - wie es leider allzu häufig vorkommt - das Ergebnis in sein Gegenteil verkehren und wir versuchen die Wahrheit zu besitzen und sie dadurch zu fixieren, bevor wir ihre eigentliche Größe und Dimension in uns selbst herangebildet haben.

Diese Art der Hinwendung am Beispiel des - man könnte sagen schöpferischen Lesens - ist aber signifikant für ein gesundes von-sich-selbst-Weggehen. Wir lernen uns tatsächlich aus einer größeren Quelle zu ernähren und erleben dies aber gleichzeitig als Ergebnis einer sehr sorgfältigen, ja objektiven Auseinandersetzung. Rückwirkend wird der Mensch erleben, dass er sein eigenes Zentrum stärker findet und in sich selbst erkraftet. Es ist dies ein seelisches Gesetz, dass die richtige Beziehungsaufnahme nach außen rückwirkend immer das eigene Zentrum und den Fortschritt in der Entwicklung begünstigen wird. Diese Art der Hinwendung unterliegt nun nicht mehr den passiven Erwartungen einer konsumierenden Bewusstseinshaltung. Vielmehr wirkt diese durchaus zu schulende Hinwendung im besten Sinne ehrerhaltend und persönlichkeitsfördernd.

Es bedarf heutzutage sicher einer regelrechten Schulung sich mit spirituellen Inhalten, Gebeten und Meditationen auseinanderzusetzen, weil doch der massiv wirkende Zeitgeist des Materialismus sich hier gerne allzu leicht hineinschleicht und der Mensch hier ungesehen nur wieder in weitere Bindungen und Konsumverhältnisse hineinrutscht.


Der exoterische Umgang mit esoterischen Wahrheiten

Indem ich aber lerne mich mit konkreten Aussagen spiritueller Natur auseinanderzusetzen und zwar möglichst aus Quellen die wir als seriös und authentisch beschreiben können, so lerne ich gewissermaßen die Natur der spirituellen Gesetzmäßigkeiten zu studieren, so wie sich ein Student das Fachgebiet seines Studienbereiches erschließen lernt. Zu jeder Zeit bewahren wir aber unsere eigene, betrachtende Position und versuchen nicht frühzeitig uns mit den Wahrheiten vielleicht emotional zu verbinden. Wir bewahren, wie Heinz Grill es beschreibt, immer einen exoterischen und damit individuellen Standpunkt. Das Geistige wird sozusagen im Geistigen belassen und das Persönliche im Persönlichen. Damit bleiben die Ebenen gewahrt und es vermischt sich nicht Subjektives und Objektives. Diese Wahrung der unterschiedlichen Ebenen ist für das Verständnis der richtigen Hingabe und Verehrung sehr wesentlich. Es bedarf einer sogenannten exoterischen, d.h. beschreibenden und einen individuellen Standpunkt wahrenden Haltung um mit esoterischen Inhalten zu arbeiten. Diese Ordnung wirkt immer freiheitlich auf uns wie auch auf unser Umfeld zurück. Wir bleiben beschreibend und in der Anschauung der Inhalte gegenüber. Auf dieser Grundlage bleibt auch das Geistige frei und wird nicht auf eine subjektive Ebene herabgezogen. Das sogenannte Geistige kann am besten wirken, wenn es einerseits in der Betrachtung konkret gedacht wird, es aber gleichzeitig auf einer sozusagen geistigen Ebene bleiben kann.

Hingabe ist sicher immer auch der Ausdruck einer grenzüberschreitenden Haltung. Dieses richtige Verständnis der gesunden Grenzüberschreitung ist aber erstaunlicherweise zutiefst persönlichkeitserweiternd und charakterbildend. Die Gesetzmäßigkeiten der Seele und des Geistes arbeiten oftmals genau entgegengesetzt unserer irdischen Vorstellungen und Gewohnheiten. Wir bringen durch die richtige Devotion und Hingabe immer ein Opfer, indem wir uns selbst ein Stück zurücklassen. Der Lohn aber ist eine wachsende Freiheit und Stärke in unserer Seele. Hingabe macht den Menschen schön, sie veredelt ihn und eröffnet erste Impressionen was der Mensch einmal werden kann und werden möchte.

Dieser exoterische und freiheitsfördernde Umgang mit spirituellen Quellen, der die Ich-Tätigkeit im besten Sinne schulen und fördern lernt ist ein zentrales Anliegen von Heinz Grill. In vielen Schulungen und Seminaren setzt er sich für diesen konstruktiven und schöpferischen Umgang mit spirituellen Inhalten ein. Die Hingabe wird zu einer den Menschen in seiner Individualität erhebenden und ernährenden Kraftquelle die wiederum auch freiheitlich und ordnend auf das gesamte Umfeld zurückwirkt.

Titelphoto: Robert Seitz